Samstag, 16. Oktober 2010

Rezension - Camilla Way: Little Bird

Rezensentin: Fräulein S.                   
                                                                     
Camilla Way: Little Bird. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Oktober 2010, Deutsche Erstausgabe, Preis: 9,95 €

Die englische Autorin Camilla Way beschreibt in ihrem zweiten Buch „Little Bird“ eine Figur, die unter außergewöhnlichen Umständen aufwuchs und nun als heranwachsende junge Frau ihren Platz in der Gesellschaft sucht.

Die Geschichte beginnt mit einer Entführung. Ein zweijähriges Mädchen wird in der Normandie an einem sonnigen Tag vor einer Bäckerei aus ihrem Kinderwagen geraubt. Fortan lebt die Kleine mit einem stummen, gutmütigen Mann im Wald, fernab jeder Zivilisation – bis zu seinem Tod.  Als sie von einem Passanten gefunden wird, zieht sich die Schlinge der Ohnmacht und Abhängigkeit  immer fester um ihren Hals und bestimmt ihr Schicksal. Die Presse stürzt sich auf den Fall. „Das wilde sprachlose Tier“ ist ein gefundenes Fressen für die Medien und schnell wird klar, dass es sich um  Elodie Brun handelt, die entführt wurde und seit 1985 vermisst wird. Elodies Sprachlosigkeit ist keine Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis, sondern ist das Ergebnis ihrer Kindheit. Sie hat die Sprache ihrer „Gastfamilie“ angenommen – Vogelstimmen, und kennt menschliche Sprache nicht.
Für die Wissenschaftlerin Dr. Ingrid Klein ist Elodie die Chance ihres Lebens, da sie anhand des kleinen Mädchens die Hypothese der kritischen Periode untersuchen kann. Und hier nimmt das Schicksal seinen Lauf und die Probleme fangen an. Ingrid verschafft ihr ein neues zu Hause, eine neue Identität und eine neue Sprache. Doch nach einem tragischen Zwischenfall flieht der kleine Vogel aus seinem goldenen Käfig und wünscht sich nichts sehnlicher, als die Vergangenheit ruhen zu lassen und vergessen zu können.  Ihr dunkles Geheimnis bleibt unausgesprochen, bis zum Tag der Abrechnung, dem Showdown – vorhersehbar und ernüchternd.

Dem Leser wird einiges an Gelassenheit abverlangt, da beispielsweise die zeitlichen Handlungsstränge und -orte nicht chronologisch abgespult werden, sondern der Leser gleich zu Beginn verwirrt zwischen den Jahren 1985 in Frankreich und 2003 in London herumirrt.  Der „kleiner Vogel“ gerät von einem Extrem ins andere und kommt für ihre jungen Jahre verhältnismäßig weit herum. Unter außergewöhnlichen Bedingungen in Frankreichs Wäldern aufgewachsen, führt sie ihr Weg nach Long Island, in eine heile, gute, goldene Welt. Danach lernt sie die Schattenseite, das andere Extrem möglicher Lebensumstände kennen, in einer eigenartigen WG in Queens. Und weil diese unbekannten Menschen so nett und herzensgut sind, schenken sie Elodie eine neue Identität in London, als Kate Eaves. Hinsichtlich dieser Odyssee und Zufälle, gerät die Glaubwürdigkeit der Geschichte leicht ins Wanken.  
„Little Bird“ ist ein Roman, der die Lebensgeschichte einer jungen Frau beschreibt, die auf der Suche nach ihrer Identität ist und schrittweise lernt, ihre Umgebung und die Bedingungen des Lebens zu verstehen. Es ist eine interessante und gute Darstellung einer Idee, aber kein Psychothriller. Dafür fehlt es dem Roman an Tiefgründigkeit bei der Ausarbeitung der Psychen aller Figuren, an Dramatik und ist zu wortgewaltig. Eher trifft auf den Roman „Little Bird“ die Bezeichnung:  ausgefallene Lebens- bzw. Liebesgeschichte zu. Mit einer absichtsvoll rätselhaften und teilweise überladenen Wortwahl führt Camilla Way ihre Leser zu einem offenen Happy End, der Raum für Spekulationen lässt – ein nettes Buch.

Die englische Autorin Camilla Way wurde 1973 in Greenwich als Tochter des Dichters Peter Way geboren. Sie studierte englische und französische Literatur an der University of Glamorgan. Camilla Way lebt heute in London und arbeitet als Redakteurin für ein Männermagazin. 2007 erschien ihr erster Roman  „The Dead of Sommer“ („Schwarzer Sommer“).

Die besten Grüße
euer Fräulein S.

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