Sonntag, 19. September 2010

Das Haus des Buches (ver)führte.

Wer sich schon immer Mal gefragt hat, wie Deutsch-Englische / Englisch-Deutsche Sprachbarrieren in einer Lesung überbrückt werden können, findet hier eine Antwort.

Bekannt durch sein breit gefächertes und anspruchsvolles Programmangebot, lud das Haus des Buches am Dienstag, den 14.09.2010 zu einem Lese- und Gesprächsabend mit Joshua Ferris, Jörg Schüttauf und Dr. Dietmar Böhnke ein. 

Dr. Dietmar Böhnke vom Institut für Anglistik führt gekonnt durch das Programm, lässt Josha Ferris und Jörg Schüttauf für sich und das Publikum aus dem Buch "The Unnamed"/"Ins Freie" lesen und  fungiert als Kommunikationsmittler. Eine kleine Kostprobe:



Joshua Ferris hat, an diesem Abend nicht wirklich viel zu tun. Nach den einführenden Worten Dr. Böhnkes, liest er kurz aus dem Original "The Unnamed". Danach wartet er auf seine "Einsätze". Während Jörg Schüttauf viel und umfassend aus der übersetzten Fassung "Ins Freie" liest, wirkt der Amerikaner verloren. Es liegt auf der Hand, dass Herr Ferris der deutschen Sprache nicht mächtig ist und keine Ahnung hat, welche Textpassagen gerade vorgetragen werden. Unbeholfen vergleicht er die neben ihm liegende aufgeschlagene deutsche Buchseite (Dr. Böhnke liest beflissen und still die gehörten Worte Jörg Schüttaufs mit) mit seinen englischen Originalbuchseiten. Fündig wird er natürlich nicht, da das englische Original "The Unnamed" bereits im Taschenbuchformat erhältlich ist. Der Rede- und Sprechanteil verteilt sich an diesem Abend prozentual folgendermaßen: Jörg Schüttauf: 60%, Dr. Dietmar Böhnke: 25%, Joshua Ferris: 15%. Nichtsdestotrotz, wird das Publikum an diesem Abend gut unterhalten und erfährt einige interessante Dinge über das Buch und Joshua Ferris. Denn Jörg Schüttauf muss nicht die ganze Zeit von seinen kopierten Buchseiten lesen, sondern darf sich auch mal entspannt zurücklehnen. Immer dann, wenn Herr Dr. Böhnke den großen Autor um symbolische Interpretationen bittet, die für Herrn Ferris leider überhaupt keinen symbolischen Charakter darstellen :-p. Doch zunächst einmal eine kurze Lesesequenz unseres ehemaligen Tatortkommissars:

Bis auf 2-3 Patzer insgesamt gut vorgetragen, auch wenn Herr Schüttauf anderer Meinung ist. Aber dazu am Ende mehr und jetzt kurz etwas zum Buch.

Tim Farnsworth müsste eigentlich ein sehr glücklicher Mensch sein. Er hat scheinbar alles, was man zum Leben braucht. Er ist ein erfolgreicher Anwalt und wird von seinen Partnern, Kollegen und Klienten geachtet und geschätzt. Das Geld fließt illusorisch-endlos per Förderband aufs private Bankkonto und seine Familie gibt ihm außerhalb der Kanzlei Halt. Wenn da nicht ein Mysterium die Sache trügen würde. Nämlich der unbe- und unergründbare Drang, laufen zu müssen. In immer kürzer werdenden Abständen überfällt ihn der Zwang, ins Freie zu laufen. Er läuft nicht mal eben bis zum Supermarkt und zurück - nein  - Tim läuft so lange, bis ihn seine Beine nicht mehr tragen können und sein Körper versagt. Er läuft, ohne Ziel, aufs Geratewohl. Tim Farnsworth ist krank. Oder auch nicht? Es gibt keinerlei medizinische Anhaltspunkte dafür, dass sein Zustand überhaupt so etwas wie einen "Krankheitswert" besitzt. Der Tatbestand, dass sein Bewegungsdrang weder physischer noch psychischer Natur ist und Spezialisten aller Fachgebiete jegliche Indikatoren für eine Diagnose fehlt, wirft Tim Farnsworth zurück und greift ihn an. Mit einer Diagnose, welcher Art auch immer, ist man in der Gesellschaft aufgehoben und hat eine Daseinsberechtigung.
Wie Tim Farnsworth mit diesem "Unnamed" umgeht, sich damit auseinandersetzt, es zulässt und welche Folgen es letztendlich auf alle existenziellen Bereiche seines Lebens ausübt, beschreibt Joshua Ferris eindrucksvoll auf 350 Seiten. "Ins Freie" ist nicht nur ein Gesellschaftsroman, sondern auch als Beziehungsstory zu verstehen. Die Beziehungsbeschreibung zwischen Tim und Jane, wie sie mit den guten und den schlechten Tagen umgehen und mit ihrem Eheschwur hardern.
  
Joshua Ferris sagt, dass sich in seinem Buch sehr viele persönliche Bezüge zu seinem eigenen Leben wiederfinden.
Zum Beispiel das Unverständnis für die Existenz und Lebensweise von Bienen, das Wetter und der Umgang mit dem Eheschwur bzw. dem Thema Heirat. Joshua Ferris versteht bis heute nicht, warum es regnet und hat erst nach 13 Jahren Beziehung und tiefgründigen Überlegungen den Eheschwur gegenüber seiner Frau ausgesprochen.













Und zu guter Letzt noch die Jörg Schüttauf-Anekdote. Ich treffe ihn nach der Lesung an der Straßenbahnhaltestelle und wir fahren gemeinsam ein Stück mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Herr Schüttauf ist insgesamt sehr unzufrieden mit sich und dem Abend. Zu viele "Patzer", das macht ihn mürrisch. Auch meine Beschwichtigungen, dass es ein gelungener Abend gewesen sei, nützen nichts. Er ist und bleibt unzufrieden mit seiner Leseleistung. Er räumt ein, sich vielleicht nicht genügend vorbereitet zu haben und und und... . Eine übereinstimmende Meinung haben wir zum Buch (auch wenn Herr Schüttauf es noch nicht zu Ende gelesen hat). Es ist schonungslos offen und ehrlich zugleich. Unsere Wege trennen sich am Hauptbahnhof. Und während ich Herrn Schüttauf und Tim Farnworth gedanklich noch so nachhänge, meine ich, hauchdünne Parallelen erkennen zu können. Jörg Schüttauf, einer der wenigen "Hände hoch, Waffe weg, wo waren sie am Donnerstag"-Kommissare, der sich freiwillig vom Tatortfernsehen verabschiedet hat - er muss womöglich ins Freie.

Die besten Grüße
Euer Fräulein S.

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