Mittwoch, 31. Oktober 2012

Buch der Woche

Tschick
Wolfgang Herrndorf

"Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nachrichten kuckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV kuckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war."

Tschick, eigentlich Andrej Tschichatschow, ist hochbegabt, bettelarm und asozial. Er kommt aus einem der Asi-Hochhäuser in Hellersdorf, hat es von der Förderschule irgendwie bis aufs Gymnasium geschafft und wirkt doch nicht gerade wie das Musterbeispiel der Integration. Er ist der Neue in der Schulklasse von Maik Klingenberg. Maik ist  ein Langweiler, der abwechslungsweise als "Psycho" gilt und aus wohlstandsverwahrlosten Verhältnissen kommt - der Vater scheitert als Immobilieninvestor, die Mutter muss immer wieder in eine Klinik zum Alkoholentzug. Er ist der zweite Außenseiter in dieser Geschichte. Und das ist im Allgemeinen auch schon der Plot: zwei Figuren mit unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen, die die großen Ferien miteinander verbringen werden.

Die beiden sind die Einzigen der pubertierenden Schulklasse, die nicht zum 14. Geburtstag der schönen Tatjana eingeladen sind. Das heißt zusammengefasst, dass Tschick und Maik nicht die Möglichkeit bekommen am größten Highlight vor den Sommerferien teilzunehmen. Macht nichts, denn dafür drehen sie ein anderes Ding. Maik wird mit einer größeren Geldsumme allein in der elterlichen Villa zurückgelassen, Tschick klaut einen schrottreifen Lada, und damit, mit dem Geld und
dem Auto, brechen die beiden kaum Fünfzehnjährigen zu einer Fahrt ins Blaue auf.

Die zwei Grünschnäbel fahren ohne genaues Ziel - zu einem Onkel in der Walachei, querfeldein, landen auf Mülldeponien, in den Mondlandschaften der Braunkohlenutzung, mitten in Feldern, in Bergen, bei Seen, in namenlosen Gebieten, bauen gefährliche Unfälle. Sie erleben die Natur mit ihren Farbwechseln, Gewittern, Nächten, Regen und Sonne. Und sie begegnen Menschen, die so schräg und überraschend sind wie die Landschaften, durch die sie kommen und immer mit ihnen die Gefahr, als Kinder erkannt zu werden.

Tschick ist ein rührender Abenteuerroman aus dem rätselhaften deutschen Osten, der rundum glücklich macht und leider viel zu schnell gelesen und erzählt ist. Herrndorf schafft es mit einer wundervoll einfachen Sprache, seine Welt ins Schräge zu drehen und so jung erscheinen zu lassen wie seine Protagonisten. Ein Roman voll Liebe und Freundschaft, mit  Gedanken von Tod und Sterblichkeit - diskret und einfach formuliert.


Zum Autor:
Wolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren, hat Malerei studiert und unter anderem für die «Titanic» gezeichnet. 2002 erschien sein Debütroman «In Plüschgewittern», 2007 der Erzählband «Diesseits des Van-Allen-Gürtels» und 2010 der Roman «Tschick», der zum Überraschungserfolg des Jahres avancierte. Wolfgang Herrndorf wurde u.a. mit dem Deutschen Erzählerpreis (2008), dem Brentano-Preis (2011), dem Deutschen Jugendliteraturpreis (2011), dem Hans-Fallada-Preis und dem Leipziger Buchpreis (2012) ausgezeichnet.
Herrndorf schreibt regelmäßig im Internetforum „Wir höflichen Paparazzi“ und beteiligt sich mit Beiträgen am Weblog Riesenmaschine.  Nach der Diagnose eines Hirntumors (Glioblastom) veröffentlicht der Schriftsteller seit September 2010 ein digitales Tagebuch.

Tschick, Rowohlt Berlin, Hardcover, 256 S., 16,95 €, Erschienen am 17.09.2010, ISBN 978-3-87134-710-8

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