Dienstag, 6. August 2013

Buch der Woche

Kafka am Strand
Haruki Murakami
 
Rätsel sind so lange interessant, wie man ihre Lösung nicht kennt. Der japanische Bestsellerautor Haruki Murakami bevorzugt in seinen Romanen das offene Ende, das die Vielfalt der Möglichkeiten bestehen lässt. Um Realismus kümmert sich Murakami ohnehin nicht, weil er die Bedeutung zu seinen rätselhaften Büchern nicht mitliefert.
 
"Kafka am Strand", legt im Titel eine Spur. Mit Kafka knüpft Murakami Beziehungen zu einem Autor, dessen Bücher sich in Grund und Boden interpretieren lassen, weil ihre Bedeutung so offen ist, dass sie sich mit gleichem Recht psychoanalytisch, marxistisch  oder religiös aufladen lassen. Murakami jedenfalls lässt sich nicht deuten, ohne das Leseabenteuer zu zerstören. Seine phantastischen Geschichten sind Lunten. Je größer die Zweifel an der vernünftigen Beschaffenheit der Welt sind, umso attraktiver wird dieses Angebot.
 
Warum Kafka? Zunächst einmal, weil der fünfzehnjährige Protagonist sich Kafka Tamura nennt. Ihm gefällt es, dass Kafka auf Tschechisch "Krähe" heißt. In seiner Phantasie wird er von einem solchen weisen Vogel begleitet, der ihm in kritischen Situationen beisteht. Kafka Tamura hat sich vorgenommen, der stärkste Fünfzehnjährige der Welt zu werden. Von der Schule hält er wenig. Er bewegt sich zwischen Fitnessstudio und Bibliothek, denn er weiß, dass Stärke nicht nur körperliche Kraft bedeutet, sondern auch Entschlossenheit, Mut, Geduld und Wissen. Er ist kein typischer Teenager, aber ein typischer Murakami-Held: einsam, wortkarg, unabhängig und liebesbegierig. Er hat aufgehört, nach einem Sinnzusammenhang zu suchen, und konzentriert sich stattdessen auf die Einzelteile.
 
Den umgekehrten Weg geht eine zweite Hauptfigur, Nakata, ein alter Mann, der ebenso weise wie wirr im Kopf ist. Er leidet darunter, dass die Welt in Wochentage, Industrieprodukte und allerlei Chaos auseinanderfällt, und erfreut sich eines meditativen Bewusstseinszustandes der Selbstvergessenheit, wo "alles eins ist" und er ohne Überlegung "ins Ganze" eintauchen kann.
 
Jede der beiden Hauptfiguren hat also ihre Probleme damit, die Hierarchie, die Struktur der Dinge und des Erlebens und die Totalität des Empfindens unter einen Hut zu bringen. Dieser Riss, der durch die Welt geht, setzt Murakamis Fabuliermaschine in Gang. Sein Erzählen ist immer doppelt. Genussvoll surft er auf der modischen Oberfläche einer Welt der Markenartikel und der Sinnenfreuden, um zugleich eine Tiefendimension anzupeilen, die wahlweise im Traum, im Unbewussten oder im Mystischen zum Ausdruck kommt.
 
Kafka Tamura haut von zu Hause ab und begibt sich auf eine Reise ins Ungewisse. Mutter und Schwester haben die Familie verlassen, als er vier Jahre alt war. Er wuchs beim Vater auf, einem berühmten Bildhauer, mit dem ihn wenig verbindet, der ihm aber eine Prophezeiung auflädt: Er werde wie Ödipus seinen Vater töten und mit seiner Mutter schlafen. Sein Aufbruch ist auch eine Flucht vor dem Fluch, doch wie im Mythos erfüllt sich das Schicksal genau dadurch, dass er ihm zu entkommen sucht.
 
Der alte Nakata hat nach einer rätselhaften, monatelangen Bewusstlosigkeit während seiner Kindheit im Zweiten Weltkrieg das Erinnerungsvermögen verloren. Ob es sich damals um die Konfrontation mit Außerirdischen oder um Giftgas der Militärs handelte, bleibt mysteriös. Er ist Analphabet, kann dafür aber mit Katzen sprechen und scheint auch dafür verantwortlich, wenn es aus heiterem Himmel Makrelen oder Blutegel regnet.
 
Nakatas Gegenfigur ist Saeki-san, die eine Bibliothek leitet und unentwegt an ihren Erinnerungen schreibt. Die große Liebe, die ihr als Fünfzehnjährige begegnete, lässt sie nicht mehr los. Sie lebt so bedingungslos in der Vergangenheit wie Nakata in der Gegenwart. Bald ist klar, dass diese beiden Figuren, die Schreibende und der Analphabet, zueinanderfinden müssen, um sich zu erlösen. Auch Kafka Tamura findet sich in der Bibliothek von Saeki-san ein und entdeckt dort ein Bild mit dem Titel "Kafka am Strand".
 
Die Mysterien und die rätselhaften Beziehungen nehmen kein Ende. Murakami spielt mit dem Mythos-Material. Murakami verschmilzt Moderne und Märchen, Mythos und Fantasy. Er schafft es, westlichen Individualisierungswunsch und fernöstliche Ganzheitlichkeit miteinander zu versöhnen, Freiheit und Notwendigkeit zugleich zu propagieren. Seine Figuren heben sich als einzelgängerische Sinnsucher von der Masse ab und sind doch jederzeit eingebunden in ein unbegreifliches Schicksal.

Kafka am Strand, Haruki Murakami, Dumont Buchverlag, 640 Seiten, 24,90 €, ISBN-13: 978-3832178666

 

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