Kafka am Strand
Haruki Murakami
Rätsel sind so lange interessant, wie man ihre Lösung nicht kennt. Der
japanische Bestsellerautor Haruki Murakami bevorzugt in seinen Romanen das
offene Ende, das die Vielfalt der Möglichkeiten bestehen lässt. Um Realismus
kümmert sich Murakami ohnehin nicht, weil er die Bedeutung zu seinen
rätselhaften Büchern nicht mitliefert.
"Kafka am Strand", legt im Titel eine Spur. Mit Kafka knüpft
Murakami Beziehungen zu einem Autor, dessen Bücher sich in Grund und Boden
interpretieren lassen, weil ihre Bedeutung so offen ist, dass sie sich mit
gleichem Recht psychoanalytisch, marxistisch oder religiös aufladen lassen. Murakami
jedenfalls lässt sich nicht deuten, ohne das Leseabenteuer zu zerstören. Seine
phantastischen Geschichten sind Lunten. Je größer die Zweifel an der
vernünftigen Beschaffenheit der Welt sind, umso attraktiver wird dieses
Angebot.
Warum Kafka? Zunächst einmal, weil der fünfzehnjährige Protagonist
sich Kafka Tamura nennt. Ihm gefällt es, dass Kafka auf Tschechisch
"Krähe" heißt. In seiner Phantasie wird er von einem solchen weisen
Vogel begleitet, der ihm in kritischen Situationen beisteht. Kafka Tamura hat
sich vorgenommen, der stärkste Fünfzehnjährige der Welt zu werden. Von der
Schule hält er wenig. Er bewegt sich zwischen Fitnessstudio und Bibliothek,
denn er weiß, dass Stärke nicht nur körperliche Kraft bedeutet, sondern auch
Entschlossenheit, Mut, Geduld und Wissen. Er ist kein typischer Teenager, aber
ein typischer Murakami-Held: einsam, wortkarg, unabhängig und liebesbegierig.
Er hat aufgehört, nach einem Sinnzusammenhang zu suchen, und konzentriert sich
stattdessen auf die Einzelteile.
Den umgekehrten Weg geht eine zweite Hauptfigur, Nakata, ein alter
Mann, der ebenso weise wie wirr im Kopf ist. Er leidet darunter, dass die Welt
in Wochentage, Industrieprodukte und allerlei Chaos auseinanderfällt, und
erfreut sich eines meditativen Bewusstseinszustandes der Selbstvergessenheit,
wo "alles eins ist" und er ohne Überlegung "ins Ganze"
eintauchen kann.
Jede der beiden Hauptfiguren hat also ihre Probleme damit, die
Hierarchie, die Struktur der Dinge und des Erlebens und die Totalität des
Empfindens unter einen Hut zu bringen. Dieser Riss, der durch die Welt geht,
setzt Murakamis Fabuliermaschine in Gang. Sein Erzählen ist immer doppelt.
Genussvoll surft er auf der modischen Oberfläche einer Welt der Markenartikel
und der Sinnenfreuden, um zugleich eine Tiefendimension anzupeilen, die
wahlweise im Traum, im Unbewussten oder im Mystischen zum Ausdruck kommt.
Kafka Tamura haut von zu Hause ab und begibt sich auf eine Reise ins
Ungewisse. Mutter und Schwester haben die Familie verlassen, als er vier Jahre
alt war. Er wuchs beim Vater auf, einem berühmten Bildhauer, mit dem ihn wenig
verbindet, der ihm aber eine Prophezeiung auflädt: Er werde wie Ödipus seinen
Vater töten und mit seiner Mutter schlafen. Sein Aufbruch ist auch eine Flucht
vor dem Fluch, doch wie im Mythos erfüllt sich das Schicksal genau dadurch,
dass er ihm zu entkommen sucht.
Der alte Nakata hat nach einer rätselhaften, monatelangen
Bewusstlosigkeit während seiner Kindheit im Zweiten Weltkrieg das Erinnerungsvermögen
verloren. Ob es sich damals um die Konfrontation mit Außerirdischen oder um
Giftgas der Militärs handelte, bleibt mysteriös. Er ist Analphabet, kann dafür
aber mit Katzen sprechen und scheint auch dafür verantwortlich, wenn es aus
heiterem Himmel Makrelen oder Blutegel regnet.
Nakatas Gegenfigur ist Saeki-san, die eine Bibliothek leitet und
unentwegt an ihren Erinnerungen schreibt. Die große Liebe, die ihr als
Fünfzehnjährige begegnete, lässt sie nicht mehr los. Sie lebt so bedingungslos
in der Vergangenheit wie Nakata in der Gegenwart. Bald ist klar, dass diese
beiden Figuren, die Schreibende und der Analphabet, zueinanderfinden müssen, um
sich zu erlösen. Auch Kafka Tamura findet sich in der Bibliothek von Saeki-san
ein und entdeckt dort ein Bild mit dem Titel "Kafka am Strand".
Die Mysterien und die rätselhaften Beziehungen nehmen kein Ende.
Murakami spielt mit dem Mythos-Material. Murakami verschmilzt Moderne und
Märchen, Mythos und Fantasy. Er schafft es, westlichen Individualisierungswunsch
und fernöstliche Ganzheitlichkeit miteinander zu versöhnen, Freiheit und
Notwendigkeit zugleich zu propagieren. Seine Figuren heben sich als
einzelgängerische Sinnsucher von der Masse ab und sind doch jederzeit
eingebunden in ein unbegreifliches Schicksal.
Kafka am Strand, Haruki
Murakami, Dumont Buchverlag, 640
Seiten, 24,90 €, ISBN-13: 978-3832178666
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